<2:2>Dadurch, dass der Mensch sich selbst entledigt, tut er
Christus, Gott, Glück und Heiligkeit hinein.
Auch wenn ein Junge über Fremdartiges spricht, glaubt man es ihm, doch
wenn Paulus große Dinge verspricht, glaubt Ihr ihm kaum. Er verspricht Dir
Glück und Heiligkeit, sobald Du Dich Dir entledigt hast. Es ist etwas
verwunderlich, dass der Mensch sich selbst entledigen soll, um Christus,
Heiligkeit und Glück hineinzutun und sehr groß enden wird.
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<2:3>Der Prophet[2] verwundert sich über zwei
Dinge. Das erste: Was Gott mit den Sternen, dem Mond und der Sonne tut[3]. Das zweite Wundersame betrifft die Seele,
dass Gott so große Dinge mit ihr und für[4] sie getan hat
und tut, denn er tut, was er will, für sie. Er tut viele große Dinge für sie,
und doch ist er gänzlich unfrei von ihr, was von ihrer Größe stammt, in der
er sie geschaffen hat.
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<2:4>Nimm wahr, wie groß er sie gemacht hat! Ich gestalte einen
Buchstaben nach dem Bild, das dieser Buchstabe in meiner Seele besitzt und
nicht nach meiner Seele. So ist es auch mit Gott. Gott hat alle Dinge generisch[5] gemacht dem Bild aller Dinge
entsprechend, das er in sich hatte, doch nicht nach ihm selbst. Manche schuf
er speziell gemäß bestimmter Eigenschaften, die sie von ihm erhielten, etwa
Güte, Weisheit und was sonst man von Gott aussagt. Jedoch die Seele hat er
nicht allein nach dem Bild geschaffen, das in ihm ist, noch danach, was von
ihm empfangen und von ihm ausgesagt wird; stattdessen schuf er sie sich
selbst gemäß, tatsächlich gemäß allem, was er der Natur nach ist, dem Sein
nach, gemäß seinem herausfließenden, in ihm verbleibenden Wirken und dem
Grund gemäß, in welchem er in ihm selber bleibend ist, in welchem er
derjenige ist, der seinen eingeborenen Sohn gebiert, in welchem der Heilige
Geist herausblüht: Gemäß diesem ausfließenden, in ihm verbleibenden Wirken
hat Gott die Seele geschaffen.
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<2:5>Natürlich ist allen Dingen, dass immer in die Niedersten die
Obersten hineinfließen, so lange die Niedersten mit den Obersten zusammengefügt
sind; Denn die Obersten empfangen niemals von den Niedersten, sondern die
Niedersten hingegen empfangen von den Obersten. Wenn nun also Gott über der
Seele ist, so ist Gott immer derjenige, der in die Seele hineinfließt und der
der Seele niemals mehr entfallen kann. Die Seele fällt eher von ihm, doch so
lange sich der Mensch unter Gott aufhält, so lange empfängt er unmittelbar
den göttlichen Einfluss, allerdings außerhalb Gottes und unter keinen anderen
Dingen seiend: weder unter der Furcht, noch unter der Liebe, noch unter Leid,
nocht unter irgendeinem Ding, das nicht Gott ist. Nun, unterwirf Dich völlig
Gott, so wirst Du den göttlichen Einfluss gänzlich und bloß empfangen.
Wie empfängt die Seele von Gott? Die Seele empfängt von Gott nicht wie von einem Fremden, wie die Luft das Licht von der Sonne empfängt: denn diese empfängt aus etwas Fremden. Im Gegensatz dazu empfängt die Seele Gott nicht als etwas Fremdes, noch als unter ihm stehend, denn, was unter etwas anderem steht, das ist etwas Fremdem und Entferntem ausgesetzt. Die Meister[6] sagen, dass die Seele wie Licht vom Licht empfängt, weil da nichts Fremdes oder Entferntes ist. |
<2:6>Es gibt Eines in der Seele, in welchem Gott bloß ist, und die
Meister sagen,[7] es sei namenlos, und es besitze keinen
eigenen Namen. Es ist und besitzt doch kein eigenes Sein, denn es ist weder
dies noch das, noch ist es hier noch da; denn es ist, was es ist, in einem
anderen und jenes in diesem; denn, dass es ist, ist es in jenem und jenes in
diesem; denn jenes fließt in dies und dies in jenes –
<2:7>Und hier, meint er[8], fügt Euch in Gott,[9] in das Glück! Denn hierin nimmt die Seele
all ihr Leben und Sein, und hieraus saugt sie ihr Leben und Sein; da dies
gänzlich in Gott ist und das andere hier draußen, darum auch ist die Seele
dementsprechend in Gott, es sei denn, sie trägt dies nach draußen oder es verlöscht
in ihr.
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<2:8>Ein Meister sagt[10] dass dies Gott so gegenwärtig
sei, dass er sich niemals von Gott abkehren möge und ihm Gott immer gegenwärtig
und in ihm sei. Ich sage, dass Gott ohne Unterbrechung ewig in diesem gewesen
ist, und in diesem der Mensch mit Gott eins ist, wo Gnade nicht hinzu gehört,
da Gnade etwas Geschaffenes ist, und dort kein Geschöpft hinein gehört; denn
in dem Grund des göttlichen Wesens, da ist sie[11] eins dem Grund gemäß. Wenn du
folglich willst, dann gehören alle Dinge Dir und Gott. Das heißt: gib Dich
selbst, alle Dinge und alles, das Du für Dich selbst bist, auf und nimm Dich[12] dem gemäß, das Du in Gott
bist.
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<2:9>Die Meister sagen[13], dass die menschliche Natur nichts mit Zeit
zu tun habe und dass sie gänzlich dem Menschen unberührbar und viel intimer
und näher sei als er sich selbst sei. Darum auch nahm Gott die menschliche
Natur an sich und vereinigte sie mit seinen Personen. Da wurde die menschliche
Natur Gott, da er die menschliche Natur als solche und nicht einen Menschen
an sich annahm. Willst Du also derselbe Christus und Gott sein, so sei gib
all das auf, das das ewige Wort an sich nicht annahm. Das ewige Wort nahm keinen
Menschen als solchen an; darum gib auf, was das individuell Menschliche an
Dir sei und was Du bist, und nimm Dich an allein als menschliche Nastur, so
bist Du dasselbe wie das ewige Wort, das die menschliche Natur selbst ist. Denn
da zwischen deiner menschliche Natur und der seinen kein Unterschied besteht,
ist sie eine, denn die sie in Christus ist, ist sie in Dir.
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<2:11>Wie soll es recht um Dich stehen? Das lässt sich dem Wort des
Propheten[18] gemäß auf zwei Weisen verstehen, wenn er
sagt: „In der Fülle der Zeit wurde der Sohn gesandt“. Die „Fülle der Zeit“ ist zwiefältig. Dann ist eine Sache vollkommen, wenn es an
seinem Ziel angelangt ist, wie der Tag voll ist an seinem Abend. Wenn
folglich alle Zeit von Dir abfällt, ist die Zeit erfüllt. Die andere
Bedeutung lautet: Wenn die Zeit an ihr Ende gelangt, nämlich in der Ewigkeit,
denn da hat alle Zeit ein Ende, denn es gibt weder vorher noch nachher. Da
ist alles, das dann ist, gegenwärtig und neu, und dann hast Du in einer
gegenwärtigen Intuition[19] alles, was je geschah und je
geschenen soll. Da gibt es kein vorher oder nachher, dann ist alles
gegenwärtig; und in dieser gegenwärtigen Intuition besitze ich alles. Das ist
die „Fülle der Zeit“, und dann steht es mit mir recht, und ich bin dann
wirklich der eine Sohn und Christus.
|
<2:12>Dass wir zu dieser „Fülle der Zeit“ kommen, dazu helfe uns
Gott! Amen.
|
[1] Röm. 13,14: ‘Sed induamini Dominum Iesum Christum’.
The Glossa Interlinearis, ad loc.: ‘induimini, id est formam
Christi’. A different interpretation is given by Hugo, Postilla, ad loc., VII,
f. 60va: ‘Induimini per conformitatem, vel ut vestem Gal. III d. Quicumque in
christo baptizati estis christum induistis’. Der liturgische Kontext: Epistolarium, Arch. f. 422ra–b: ‘Dominica
prima in adventu domini. Lectio epistole beati Pauli apostoli ad Romanos
[13:11–3]. Fratres. Scientes [Et hoc scientes tempus Vg.]: quia hora est iam
nos de somno surgere. Nunc enim propior est nostra salus, quam cum credidimus.
Nox precessit, dies autem appropinquavit. Abiciamus ergo opera tenebrarum, et
induamur arma lucis. Sicut in die honeste ambulemus: non in commessationibus,
et ebrietatibus, non in cubilibus, et impudicitiis, non in contentione, et
emulatione: sed induimini Dominum Ihesum Christum’.
[2] Ps.
8,2.4–9: ‘Domine Dominus noster, quam admirabile est nomen tuum, in universa
terra … Quoniam videbo caelos tuos, opera digitorum tuorum: lunam et stellas,
quae tu fundasti. Quid est homo, quod memor es eius? aut filius hominis,
quoniam visitas eum? Minuisti eum paulominus ab angelis, gloria et honore
coronasti eum: et constituisti eum super opera manuum tuarum. Omnia subiecisti
sub pedibus eius, oves et boves universas: insuper et pecora campi. Volucres
caeli, et pisces maris, qui perambulant semitas maris’.
[3] Im
erhaltenen Textbestand ist das Thema nicht weiter entwickelt.
[4] Mittelhochdeutsch „durch“ kann
sowohl „durch“ wie auch „für“ heißen, beide Nuancen scheinen mir hier
vorzuliegen, auch wenn man im Neuhochdeutschen sich für eine Option entscheiden
muss.
[5] Das
‘gemeinlîche’ meint ‘generisch’ und kontrastiert mit ‘sunderlîche’ oder ‘einzel’.
Doch gehören beide zu einer ersten Art Schöpfung „dem Bild nach“, was eine
Art zweite Ableitung von Gott bedeutet. Was durch Gott „im Bild“ geschaffen wurde, hat ihn zwar immernoch als Ursprung,
doch stammt nicht unmittelbar von ihm. Diese Vermittlung bezieht sich
nicht nur auf die generische Schöpfung, sondern gerade auf die einzelnen Geschöpfe,
die allerdings dennoch an den göttlichen Perfektionen wie Güte und Weisheit
teilhaben. Wie L.
Sturlese erläutert, mag dieser Gedanke sich vielleicht auf die Engel beziehen. Im
Unterschied zu der zweiten, abgeleiteten Schöpfung, fügt Eckhart die
unmittelbare Abkunft von Gott hinzu, die der Seele bzw. dem Intellekt
eigentlich ist und die nicht mehr nur ein Abbild Gottes darstellt, sondern
unmittelbar von Gott selbst stammt. Dies klingt wie eine Verschärfung des Gedankens,
der bei Dietrich von Freiberg in seiner Theorie der Emanation zu finden ist, nach
der der Intellekt „im Bild“ aus Gott fließt, während
die Engel sich von den göttlichen Perfektionen nähren (De visione beatifica, 1.2.1.1.4.–5., ed. Mojsisch, 39–41; ein
solches „fließen in der Gleichheit von Gott“ erwähnt Eckhart weiter unten
in Pr. 4* [Q
77], n. 3. Wir kontrastieren das hier Gesagte nicht mit dem, was bei Eckhart in
In Gen. I n. 115 (LW I/2, 155) zu
finden ist, wenn auch eine gewisse Spannung zu dem hier Gesagten besteht, vgl. L.
Sturlese, ‘Dietrich di Freiberg lettore di Eckhart?’ (2006), 437–53.
[6] ‘Die
meister’: vgl. Liber de causis, prop.
5 (6), n. 58, ed. Pattin, 59: ‘… causa prima non cessat illuminare causatum
suum et ipsa non illuminatur a lumine alio’.
[7] ‘die
meister sprechent’: das nach Quint nicht belegte Zitat erinnert nach L.
Sturlese an Avicenna, De anima I 1,
ed. Van Riet, 15, 78–9: ‘imponimus ei nomen ‘anima’. Et hoc nomen est nomen
huius rei non ex eius essentia …’
[8] ‘er’:
der heilige Paulus.
[9] ‘fügt Euch in Gott’: das biblische ‘induimini’ erinnert
an den Säugling, der zurück in den Mutterschoß gegeben wird, nachdem er gerade
geboren wurde, und sein Leben und Sein von der Mutter ersaugt.
[10]
Quint stellt den Bezug zu Augustinus als mögliche Quelle her; vgl. Augustinus, De Trinitate XIV 7,9, ed. Mountain and
Glorie, 433, 19 – 434, 26 und XIV 14,18, ed. Mountain and Glorie, 445, 5–7 (‘abditum
mentis’), vielleicht vermittelt durch Dietrich von Freiberg, vgl. seine De visione beatifica, vgl. hierzu Anm. 5.
[11] ‘sie’:
die Seele.
[12] ‘nim
dich’: versteh Dich.
[13]
J. Quint bezieht die Stelle auf Th. Aqu., De
ente et essentia 3, doch nach L. Sturlese ist es eher Anselm, De incarnatione Verbi 1, ed. Schmitt,
10, 9–13: ‘qui non potest intelligere aliquid esse hominem nisi individuum,
nullatenus intelliget hominem nisi humanam personam … Quomodo ergo iste
intelliget hominem assumptum esse a verbo, non personam, id est naturam aliam,
non aliam personam assumptam esse?’ Vgl. auch Honorius Augustodunensis, Clavis physicae 416, ed. Arfè, 147,
2785–8: ‘ipsa (uidelicet natura) ubique in se ipsa et in omnibus eam
participantibus bona, salua, integra, illesa, incontaminata, incorruptibili,
inpassibili, inmutabili participatione summi boni permanente …’ Vgl. auch Eckhart,
In Ioh. n. 289 (LW III 241).
[14] Hier beginnt ein weiterer Teil der Predigt, die auf den
Gedanken der „Fülle der Zeit“ führt und etwa nicht im Sermo
LII zu finden ist. Es ist schwer zu beurteilen, ob dieser Gedanken von Gal. 4:4 aus dem liturgischen Kontext des
Sonntags der Oktav von Weihnachten herrührt. Vgl. weiter unten zu Pr. 6* [Q 38]. Eckharts These wurde
verurteilt in In agro dominico durch
Johannes XXII., art. 12: ‘Duodecimus articulus. Quicquid dicit sacra scriptura
de Christo, hoc etiam totum verificatur de omni bono et divino homine’ (vgl. LW
V 598).
[15] Eine
weitere Paronomasia: ‘ervüllet’ / ‘volheit der zît’.
[16] ‘von
Kristô’ ist eine unnötige und leicht missverständliche Korrektur des
Herausgebers J. Quint auf der Basis von Proc.
Aven.
[17] ‘ist
dir reht’ ist ein oft von Eckhart gebrauchter Ausdruck, auch wenn er schwierig
zu übersetzen ist. J. Quint übersetzt: ‘bist du recht daran’.
[18] Gal. 4:4: ‘At ubi venit plenitudo
temporis, misit Deus Filium suum …’ Dieser Satz ist erstaunlicherweise dem
Propheten zugeschrieben, wohingegen in Pr.
6* [Q 38], n. 5 Eckhart korrekter schreibt: ‘Sant Paulus sprichet: “in der
vüllede der zît sante got sînen sun”‘. Zum Inhalt vgl. Pr. 77* [Q 11], n. 3.
[19] ‘anesehenne’:
wohl als “Intuition” zu interpretieren.
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