Wieder einmal wurden die Einwände gegen die Beobachtung, dass vor Markion keine Evangeliennarrationen bekannt sind, angeblich widerlegt. In einer 2020 in Wien vorgelegten Dissertation zum Kanon Muratori, schreibt Joachim Orth, Das Muratorische Fragment und die Frage seiner Datierung Eine Auseinandersetzung mit den Thesen Hahnemans, S. 136f.
nachzulesen in http://othes.univie.ac.at/54408/1/54745.pdf
"Markus Vinzent und Matthias Klinghardt stellen nun in jüngster Zeit die ungewöhnliche These auf, dass Markion der Urheber des ältesten Evangeliums sei und alle drei synoptischen Evangelien von ihm abhängig seien.504 Vinzent begründet seine Hypothese, indem er erklärt, dass kein Kirchenschriftsteller vor der Zeit von Markion aus den kanonischen Evangelien zitierte.505 Klinghardt ist davon überzeugt, dass eine zeitliche Markion-Priorität vor dem Lukasevangelium besteht.506 Hierzu kann man jedoch entgegenhalten, dass schon Clemens von Rom in seinem Ersten Brief an die Korinther in 13,2 aus Mt 7,1-2 zitiert und in 46,8 aus Lk 17,1-2. In Didache 7,1 wird der Vers aus Mt 28,19 wiedergegeben, in 8,2 der Text aus Mt 6,9-13 und in 11,7 findet man ein Zitat aus Mt 12,31-32 wieder. Sowohl der Erste Clemensbrief als auch die Didache sind Dokumente aus der Zeit vor Markion und weisen nach, dass schon vor Markion aus den Evangelien z. B. von Mt und Lk zitiert wurde. Justin beschreibt überdies in 1. Apol. 67,3 eine Praxis, die schon vor der Zeit des Markion gebräuchlich war. Er berichtet, dass „an dem Tage, den man Sonntag nennt, eine Versammlung aller statt-[findet]; … dabei werden die Denkwürdigkeiten der Apostel oder die Schriften der Propheten vorgelesen, solange es angeht.“507 In Kapitel 66,3 identifiziert er diese „Denkwürdigkeiten“ mit den Evangelien: „ἀποµνηµονεύµασιν, ἃ καλεῖται εὐαγγέλια …“ Auch schon Papias spricht zudem von dem Markusevangelium, das Markus als ἑρµενευτής des Petrus verfasste.508 So kann die Hypothese nicht aufrecht bleiben, dass erst mit Markion das erste bzw. älteste Evangelium noch vor dem kanonischen Lukasevangelium entstanden sei. Wäre laut Vinzent und Klinghardt das kanonische Lukasevangelium erst nach Markion geschrieben worden, dann könnte man mit den etwas sarkastischen Worten des Tertullian entgegnen: „Als einziger und erster Verbesserer des von den Zeiten des Tiberius bis auf die des Antonius in Verderbnis geratenen Evangeliums begegnet uns nur Marcion. Er wurde die ganze Zeit hindurch von Christus mit Schmerzen erwartet und es tat diesem schon leid, dass er die Apostel so eilig und ohne sich des Beistandes Marcions versichert zu haben, vorausgeschickt hatte.“ 509 An anderer Stelle argumentiert Tertullian, dass das kanonische Lukasevangelium schon vorhanden war, bevor Markion es zu „korrigieren“ versuchte: „Durch seine Verbesserungen bestätigt er [Markion] also beides, sowohl dass unser Evangelium das ältere sei, indem er nur Dinge verbessern konnte, die er vorfand, und zweitens, dass dasjenige, welches er aus dem verbesserten unsrigen schuf und sich dann zu eigen machte, das spätere war.“"
Hieraus schließt der Autor:
"Resümee: Markion kannte einige der vier - später als kanonisch bezeichneten - Evangelien, von denen er das Lukasevangelium auswählte. Vielleicht sogar kannte er alle vier Evangelien."
Hierzu gilt festzuhalten:
Auch diese jüngst vorgetragenen Gegenbeispiele laufen ins Leere. Entgegengehalten werden 1Klem. 13,2 („Denn so hat er gesprochen: Seid barmherzig, damit ihr Barmherzigkeit erlanget; verzeihet, damit ihr Verzeihung findet; wie ihr tuet, so wird man euch tun; wie ihr gebet, so wird euch gegeben werden; wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden; wie ihr Milde übet, so werdet ihr Milde erfahren; mit welchem Maße ihr messet, mit dem wird euch gemessen werden“, die man tatsächlich vergleichen kann mit Matth. 6,14: Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben; 7,1-2.12: 1 Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! 2 Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden, 12 Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten; *Ev. 6,31. 36-38 und Lk. 6,31. 36-38: 31 Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen! 36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! 37 Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden! Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden! Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden! 38 Gebt, dann wird auch euch gegeben werden! Ein gutes, volles, gehäuftes, überfließendes Maß wird man euch in den Schoß legen; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden), 1Klem. 46,8 („Wehe jenem Menschen, besser wäre es für ihn gewesen, wenn er nicht geboren worden wäre, als dass er einem meiner Auserwählten Ärgernis gibt; nützlicher wäre es für ihn, wenn ihm ein Mühlstein umgehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde, als dass er einen meiner Auserwählten verführt“; man vgl. Matth. 26,24: „Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird! Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre“; Mk. 14,21: „Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird! Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre“; *Ev. 17,1-2; Lk. 17,1-2: „Aber wehe dem, durch den sie kommen! 2 Es wäre besser für ihn, man würde ihn mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer werfen, als dass er für einen von diesen Kleinen zum Ärgernis wird“) doch zunächst lässt sich 1Klem. nicht näher datieren als ins zweite Jahrhundert, die Schrift kann also vor oder nach Markion entstanden sein. Die Parallelstellen können also sowohl von *Ev. stammen wie auch von Lk., Mk. oder Matth. Ähnliches gilt für Parallelen aus der Didache, wobei hier noch erschwerend hinzu kommt, dass der älteste Textbestand, den wir für diese Schrift besitzen, aus derselben Handschrift, dem Hierosolymitanus, stammt, der uns die im 4. Jh. überarbeitete und stark evangelisierte Langfassung der Ignatianen bietet, d.h. der Textbestand ist wenig verlässlich eine Version des 2. Jh.s; solche Überarbeitung kann aber auch für 1Klem. nicht ausgeschlossen werden, worauf die Lesartvarianten gerade in diesen Zitatpassagen hindeuten. Hinzu kommt, dass alle angeführten Beispiele Sprüche des Herrn sind und nicht eine einzige Narration. Es findet sich also präzise der Befund, von dem ich gesprochen hatte. Das heißt im Ergebnis, dass sich gerade durch die sogenannten Einwände die genannte These von dem vormarkionitischen Fehlen einer jeden Evangeliennarration nur erhärtet. Wenn als weiterer Einwand angeführt wird, dass Justin in 1Apol. 67,3 eine Lesepraxis beschreibt, „die schon vor der Zeit des Markion gebräuchlich war“ (so Orth ibid.) ist dies reine Spekulation. Und wenn behauptet wird, Papias spreche „von dem Markusevangelium“, so ist auch dies Eisegese – Papias erwähnt den Begriff „Evangelium“ nicht – außerdem wissen wir nicht, ob Papias vor oder nach Markion zu datieren ist. Folglich sollte man den Sarkasmus des Tertullian nicht sofort für bare Münze nehmen.
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