Zur ersten Frage der Begegnung mit Christus lässt sich sagen, dass für Markion ja gerade die Begegnung mit dem auferstandenen Geistwesen Christus, die Paulus, wie er in Gal sagt, in einer Offenbarung hatte, ausschlaggebend war. In der Begegnung mit dem Geistwesen besteht die wahre Augenzeugenschaft, die so nur Paulus unter allen Aposteln zuteil wurde.
„16 Doch nicht
alle sind dem Evangelium gehorsam geworden.
Denn Jesaja sagt: Herr, wer hat unserer Kunde geglaubt? 17 So kommt der
Glaube aus der Kunde, die Kunde aber durch das Wort Christi.“
In diesen zwei Versen steht erstens die From ὑπήκουσαν
(„gehorsam“), dann gleich 3 Mal mit der
Steigerung das Nomen „Kunde“ (ἀκοή), wonach niemand der Kunde glaubt, wo doch Glaube aus
der Kunde stammt und diese wieder auf Christus selbst zurückzuführen ist. Als
Teil der Auseinandersetzung mit seinen Brüdern, den Israeliten, verweist Paulus
zunächst auf den Jesajavers, dem er diesen Begriff entnimmt, und zwar in der
LXX Fassung, die anders als der masoretische Text mit der Anrede an den Herrn,
Gott, eröffnet. Gott,
der Herr, wird hier mit Christus gleichgesetzt, der durch sein Wort validiert, was
zu hören ist, die oral verkündete Botschaft. Schon kurz zuvor in Vers 14 wurde
auf die Bedeutsamkeit dieser Kunde hingewiesen: „Wie sollen sie nun den anrufen,
an den sie nicht glauben? Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündet?“ Wegen
seiner dreigliedrigen, bündigen Form, wurde gefragt, ob es sich bei Vers 17
nicht um eine Glosse handelt. In
den nachfolgenden Versen verschärft sich die Auseinandersetzung mit Israel
durch weitere Fragen: „Haben sie etwa nicht gehört?“
(Röm 10,18), „Hat etwa Israel nicht verstanden?“ (Röm 10,19) mit der harschen
Hinzufügung, die Mose in den Mund gelegt wird: „Ich will euch eifersüchtig
machen auf ein Volk, das kein Volk ist; auf ein unverständiges Volk will ich
euch zornig machen“ (ibid.;
Deut 32,21),
und mit einem weiteren Zitat aus Jesaja verdeutlicht Paulus, dass es nicht an
Gott lag, denn dieser hatte sich nach Israel ausgestreckt, sondern die Schuld
bei Israel liegt, das Gott nicht suchte (Jes 65,1).
In derselben Art formuliert Paulus auch Gal 3,2 gegenüber den Galatern: „Habt
ihr den Geist durch die Werke des Gesetzes oder durch die Kunde der Glaubensbotschaft empfangen?“ und fast gleichlautend in Gal 3,5:
„Warum gibt euch denn Gott den Geist und bewirkt Machttaten unter euch? Aus
Werken des Gesetzes oder aus der Kunde
der Glaubensbotschaft?“ Im
Ersten Thessalonicherbrief wird die Bedeutung der Kunde personalisiert auf
Paulus und seine Adressaten: „Darum danken wir Gott unablässig dafür, dass ihr
das Wort Gottes, das ihr durch unsere Kunde
empfangen habt, nicht als Menschenwort, sondern - was es in Wahrheit ist - als
Gottes Wort angenommen habt; und jetzt ist es in euch, den Glaubenden, wirksam.“
Die Bedeutung der Kunde findet sich
auch in den kanonischen Evangelien. Mt 4,24 formuliert, dass sich „die Kunde von ihm (oder seine Kunde) in ganz Syrien verbreitete“. Mk
1,28 schreibt von „der Kunde von ihm
(oder seiner Kunde), die sich rasch
im ganzen Gebiet von Galiläa verbreitete“. Außerdem
kennt er ein Gleichnis der Taubenheilung (Mk 7,31-37; in der Mt-Parallele Mt
15,29-31 werden Stumme, Lahme und Blinde geheilt, doch von Tauben ist nicht die
Rede).
Wichtiger aber ist, dass der Terminus im Zusammenhang der christlichen Identitätsbeschreibung und -abgrenzung zu finden ist, wieder
mit Bezug zu Jesaja, und zwar im Johannesevangelium mit Bezug zur selben
Jesajastelle, die uns bereits aus dem Römerbrief bekannt ist, Jes 53,1:
„37 Obwohl
Jesus so viele Zeichen vor ihren Augen getan hatte, glaubten sie nicht an ihn.
38 So sollte sich das Wort erfüllen, das der Prophet Jesaja gesprochen
hat: Herr, wer hat unserer Kunde
geglaubt? Und der Arm des Herrn - wem wurde seine Macht offenbar? 39 Denn
sie konnten nicht glauben, weil Jesaja an einer anderen Stelle gesagt hat:
40 Er hat ihre Augen blind gemacht und ihr Herz hart, damit sie mit ihren
Augen nicht sehen und mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen, damit sie
sich nicht bekehren und ich sie nicht heile.“
In
dieser Auseinandersetzung mit Pharisäern führt Johannes dasselbe Zitat wie
Paulus an, allerdings mit der bemerkenswerten Betonung nicht der Kunde oder des
Gehörs, sondern, indem er ein weiteres Zitat aus demselben Jesajakapitel
hinzufügt, verschiebt er das Gewicht hin zu den Augen, dem Sehen und zur
Einsicht. Darin unterscheidet sich Johannes von Matthäus, der in Hinsicht auf
die Gewichtung des Gehörs näher bei Paulus bleibt:
„Deshalb rede ich
zu ihnen in Gleichnissen, weil sie sehen und doch nicht sehen und hören und doch nicht hören und nicht verstehen. 14 An
ihnen erfüllt sich das Prophetenwort Jesajas: Hören sollt ihr, hören
und doch nicht verstehen; / sehen sollt ihr, sehen und doch nicht einsehen.
15 Denn das Herz dieses Volkes ist hart geworden. / Mit ihren Ohren hören sie schwer / und ihre Augen verschließen sie,
/ damit sie mit ihren Augen nicht sehen / und mit ihren Ohren nicht hören / und mit ihrem Herzen / nicht zur Einsicht
kommen / und sich bekehren und ich sie heile. 16 Eure Augen aber sind
selig, weil sie sehen, und eure Ohren,
weil sie hören. 17 Denn, amen,
ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben sich danach gesehnt zu sehen,
was ihr seht, und haben es nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört, und
haben es nicht gehört.“ (Mt 13,13-17)
Kurz
darauf berichtet Mt 14,1, dass auch Herodes die Kunde von Jesus vernommen
hatte. Auch von den endzeitlichen Dingen wird man Kunde erhalten (Mt 24,5-6 //
Mk 13,7). In der Apostelgeschichte wird von den
Menschen in Athen berichtet, die von Jesu Kunde berichten (Apg 17,20)
und wenig später, Apg 28,25-27, begegnen wir wieder dem Jesajavers, den wir
gerade bei Johannes gelesen hatten, Jes 6,9-10, der hier Paulus in den Mund
gelegt wird. Offenkundig dient diese Apg-Stelle wie überhaupt der wiederholt
zitierte Jesajavers der Verstärkung der narrativen Verknüpfung der verschiedenen Schriften des kanonischen Neuen Testaments, die bereits
Johannes mit seinem Rückbezug zum Römerbrief hergestellt hatte.
Aufgrund
dieser herausgehobenen Bedeutung, die Gehör und Kunde beim kanonischen Paulus und in den Synoptikern haben, formuliert 2Tim
4,3-4, dass diejenigen, die die gesunde Lehre nicht ertragen und sich Fabeleien
zuwenden, sich „das Ohr kitzeln lassen“ oder gar „das Ohr abwenden“. Hierzu
passt auch die Kritik in Hebr 4,2, wenn es heißt, dass „auch uns das Evangelium
verkündet worden ist wie jenen, doch hat ihnen das Wort der Kunde nichts genützt, weil es sich nicht
durch den Glauben mit den Hörern
verband“.
Dass das Gehör zum Leib gehört –
allerdings ohne größere Gewichtung als andere Sinne,
erfährt man aus 1Kor 12,16-17, einer Passage, die vielleicht auch in *Paulus gestanden war und etwas in Spannung steht zu der
herausgehobenen Bedeutung gerade des Gehörs in Röm. Dazu würde passen, dass in *Ev, anders etwa
als in den zitierten Passagen aus Mt, das
Sehen und Gesehene von größerer Bedeutung ist als das Hören und die Kunde, wenn
etwa in *Ev
10,23 zunächst das Sehen seliggepriesen
wird und in *Ev 10,24 vom Hören und der Kunde
gar nicht mehr die Rede ist. Auch
wenn Lk 7,1 das Hören ergänzt, bleiben Hören und Kunde in diesem Evangelium
verglichen mit Mt und Mk weniger beleuchtet.
Überblickt man diese Ausführungen zu
ἀκοή,
wird deutlich, dass die Kunde und das Hören für Markion, und
zwar sowohl für seinen *Paulus wie auch sein *Ev, von
geringerer Bedeutung als das Wahrnehmen und Sehen hatte. Hierin unterscheidet
sich sein Neues Testament von dem kanonischen, in welchem die Synoptiker, die Apostelgeschichte
und die Paulinen das Hören und die Kunde aufwerteten, auch wenn das
Johannesevangelium trotz Bezug zu Paulus mit der Herausstellung des Sehens Markion diesbezüglich näher steht als den anderen kanonischen Schriften – auch in anderen Fällen könnte man zeigen, dass Joh öfter als die Synoptiker Elemente Markions aufgreift.
Um die Frage nach der Augenzeugenschaft zu beantworten: Das Sehen, darum auch in Gal der Hinweis auf die Offenbarung, und Tertullians Kritik an Markions Eröffnung von *Ev, er habe besser von einer "Erscheinung" statt von einer "Herabkunft" reden müssen, war für Markion wichtig, aber es war ein Sehen, wie Herr Grünstäudl richtig notiert, die als Offenbarung verstanden wurde, und zwar als eine solche eines Geistwesens (darum, worüber sich Tertullian lustig macht, habe Markion auch Eu-aggelion, als die Botschaft eines guten (eu) Engels (Angelos) verstanden).
Was die zweite Frage nach den Quellen betrifft: Die Sprachuntersuchung zum Wortschatz der markionitischen Sammlung, die ich wegen meiner Rekonstruktion der paulinischen Briefe in dieser anstellen musste (die Rekonstruktion wird wohl nächstes Jahr im Druck bei TANZ erscheinen), hat ergeben, dass man sowohl im Evangelium wie in den 10 paulinischen Briefen zwischen einem Wortschatz unterscheiden kann, der aus (mündlichen eher als schriftlichen) Vorlagen für Markions Sammlung von Evangelium und Paulinischen Briefen zu stammen scheinen (auffallenderweise unterscheiden sich die drei Pseudpaulinen 2Thess, Eph/Laod, Kol mit einem eigenen Wortschatz), und Markions eigenem Wortschatz, der sich überraschenderweise, gerade was kleine Flickwörter und Konjunktionen betrifft, sowohl in *Ev wie in *Paulus findet.
Markion scheint demnach bei seiner Suche nach Materialien v.a. mündlich Kunde von Jesusmaterial und Paulusmaterial erhalten haben und dabei auch auf die wohl schriftliche Vorlage der drei Pseudpaulinen gestoßen zu sein, die er wie das Jesus- und Paulusmaterial gründlich bearbeitet hatte.