Markus Vinzent's Blog

Saturday 27 February 2021

Evangelienkenntnis vor Markion?

 Wieder einmal wurden die Einwände gegen die Beobachtung, dass vor Markion keine Evangeliennarrationen bekannt sind, angeblich widerlegt. In einer 2020 in Wien vorgelegten Dissertation zum Kanon Muratori, schreibt Joachim Orth, Das Muratorische Fragment und die Frage seiner Datierung Eine Auseinandersetzung mit den Thesen Hahnemans, S. 136f.

nachzulesen in http://othes.univie.ac.at/54408/1/54745.pdf


"Markus Vinzent und Matthias Klinghardt stellen nun in jüngster Zeit die ungewöhnliche These auf, dass Markion der Urheber des ältesten Evangeliums sei und alle drei synoptischen Evangelien von ihm abhängig seien.504 Vinzent begründet seine Hypothese, indem er erklärt, dass kein Kirchenschriftsteller vor der Zeit von Markion aus den kanonischen Evangelien zitierte.505 Klinghardt ist davon überzeugt, dass eine zeitliche Markion-Priorität vor dem Lukasevangelium besteht.506 Hierzu kann man jedoch entgegenhalten, dass schon Clemens von Rom in seinem Ersten Brief an die Korinther in 13,2 aus Mt 7,1-2 zitiert und in 46,8 aus Lk 17,1-2. In Didache 7,1 wird der Vers aus Mt 28,19 wiedergegeben, in 8,2 der Text aus Mt 6,9-13 und in 11,7 findet man ein Zitat aus Mt 12,31-32 wieder. Sowohl der Erste Clemensbrief als auch die Didache sind Dokumente aus der Zeit vor Markion und weisen nach, dass schon vor Markion aus den Evangelien z. B. von Mt und Lk zitiert wurde. Justin beschreibt überdies in 1. Apol. 67,3 eine Praxis, die schon vor der Zeit des Markion gebräuchlich war. Er berichtet, dass „an dem Tage, den man Sonntag nennt, eine Versammlung aller statt-[findet]; … dabei werden die Denkwürdigkeiten der Apostel oder die Schriften der Propheten vorgelesen, solange es angeht.“507 In Kapitel 66,3 identifiziert er diese „Denkwürdigkeiten“ mit den Evangelien: „ἀποµνηµονεύµασιν, ἃ καλεῖται εὐαγγέλια …“ Auch schon Papias spricht zudem von dem Markusevangelium, das Markus als ἑρµενευτής des Petrus verfasste.508 So kann die Hypothese nicht aufrecht bleiben, dass erst mit Markion das erste bzw. älteste Evangelium noch vor dem kanonischen Lukasevangelium entstanden sei. Wäre laut Vinzent und Klinghardt das kanonische Lukasevangelium erst nach Markion geschrieben worden, dann könnte man mit den etwas sarkastischen Worten des Tertullian entgegnen: „Als einziger und erster Verbesserer des von den Zeiten des Tiberius bis auf die des Antonius in Verderbnis geratenen Evangeliums begegnet uns nur Marcion. Er wurde die ganze Zeit hindurch von Christus mit Schmerzen erwartet und es tat diesem schon leid, dass er die Apostel so eilig und ohne sich des Beistandes Marcions versichert zu haben, vorausgeschickt hatte.“ 509 An anderer Stelle argumentiert Tertullian, dass das kanonische Lukasevangelium schon vorhanden war, bevor Markion es zu „korrigieren“ versuchte: „Durch seine Verbesserungen bestätigt er [Markion] also beides, sowohl dass unser Evangelium das ältere sei, indem er nur Dinge verbessern konnte, die er vorfand, und zweitens, dass dasjenige, welches er aus dem verbesserten unsrigen schuf und sich dann zu eigen machte, das spätere war.“"

Hieraus schließt der Autor:

"Resümee: Markion kannte einige der vier - später als kanonisch bezeichneten - Evangelien, von denen er das Lukasevangelium auswählte. Vielleicht sogar kannte er alle vier Evangelien."  

Hierzu gilt festzuhalten:

Auch diese jüngst vorgetragenen Gegenbeispiele laufen ins Leere. Entgegengehalten werden 1Klem. 13,2 („Denn so hat er gesprochen: Seid barmherzig, damit ihr Barmherzigkeit erlanget; verzeihet, damit ihr Verzeihung findet; wie ihr tuet, so wird man euch tun; wie ihr gebet, so wird euch gegeben werden; wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden; wie ihr Milde übet, so werdet ihr Milde erfahren; mit welchem Maße ihr messet, mit dem wird euch gemessen werden“, die man tatsächlich vergleichen kann mit Matth. 6,14: Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben; 7,1-2.12: 1 Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! 2 Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden, 12 Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten; *Ev. 6,31. 36-38 und Lk. 6,31. 36-38: 31 Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen! 36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! 37 Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden! Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden! Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden! 38 Gebt, dann wird auch euch gegeben werden! Ein gutes, volles, gehäuftes, überfließendes Maß wird man euch in den Schoß legen; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden), 1Klem. 46,8 („Wehe jenem Menschen, besser wäre es für ihn gewesen, wenn er nicht geboren worden wäre, als dass er einem meiner Auserwählten Ärgernis gibt; nützlicher wäre es für ihn, wenn ihm ein Mühlstein umgehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde, als dass er einen meiner Auserwählten verführt“; man vgl. Matth. 26,24: „Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird! Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre“; Mk. 14,21: „Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird! Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre“; *Ev. 17,1-2; Lk. 17,1-2: „Aber wehe dem, durch den sie kommen! 2 Es wäre besser für ihn, man würde ihn mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer werfen, als dass er für einen von diesen Kleinen zum Ärgernis wird“) doch zunächst lässt sich 1Klem. nicht näher datieren als ins zweite Jahrhundert, die Schrift kann also vor oder nach Markion entstanden sein. Die Parallelstellen können also sowohl von *Ev. stammen wie auch von Lk., Mk. oder Matth. Ähnliches gilt für Parallelen aus der Didache, wobei hier noch erschwerend hinzu kommt, dass der älteste Textbestand, den wir für diese Schrift besitzen, aus derselben Handschrift, dem Hierosolymitanus, stammt, der uns die im 4. Jh. überarbeitete und stark evangelisierte Langfassung der Ignatianen bietet, d.h. der Textbestand ist wenig verlässlich eine Version des 2. Jh.s; solche Überarbeitung kann aber auch für 1Klem. nicht ausgeschlossen werden, worauf die Lesartvarianten gerade in diesen Zitatpassagen hindeuten. Hinzu kommt, dass alle angeführten Beispiele Sprüche des Herrn sind und nicht eine einzige Narration. Es findet sich also präzise der Befund, von dem ich gesprochen hatte. Das heißt im Ergebnis, dass sich gerade durch die sogenannten Einwände die genannte These von dem vormarkionitischen Fehlen einer jeden Evangeliennarration nur erhärtet. Wenn als weiterer Einwand angeführt wird, dass Justin in 1Apol. 67,3 eine Lesepraxis beschreibt, „die schon vor der Zeit des Markion gebräuchlich war“ (so Orth ibid.) ist dies reine Spekulation. Und wenn behauptet wird, Papias spreche „von dem Markusevangelium“, so ist auch dies Eisegese – Papias erwähnt den Begriff „Evangelium“ nicht – außerdem wissen wir nicht, ob Papias vor oder nach Markion zu datieren ist. Folglich sollte man den Sarkasmus des Tertullian nicht sofort für bare Münze nehmen.

Thursday 11 February 2021

The oral tradition and Marcion

With permission of the sender, I am posting here a recent email exchange that we had on the question of dating and sequence of oral information and the writing of Marcion's Gospel. Thanks for the question and the permission to post this non-anonymized:


Dear Mr. Professor Dr. Vincent Marcus, sir!

 

Let me remind you about myself. I am the Orthodox Bishop Oleg Chekrygin. Three years ago I asked you to send me your book on the dating of the gospels. I was happy to receive all three of your books, thank you. To the best of my poor English, I familiarized myself with your works. I must tell you that this is an outstanding study in my opinion. And even revolutionary.

 

Unfortunately, it is little known in Russia, your books have not been translated into Russian, and the fruits of your research are hushed up by Russian biblical scholars, who remain on the point of view of the early dating of the synoptic gospels by the middle of the first century.

 

>indeed, it would be nice, if I found somebody who could translate the work into Russian.

 

Once again, I express my deep gratitude to you for your outstanding work.

 

However, if I may, I want to ask you some questions.

 

From my point of view, the synoptic problem cannot be removed by establishing the priority of the Gospel of Marcion over the synoptics. 

>see the latest publication on this by Matthias Klinghardt, The Oldest Gospel and the Formation of the Canonical Gospels (Peeters Publishers, 2021) which has a very detailed discussion about the relation between Marcion's Gospel and the synoptics.

 

The dating of the Markion's Gospel is only known about the time of its appearance in Rome, around 140. The time and place of writing is unknown. 

> it is either that the Gospel was written in Sinope (Pontus) or in Rome.

 

Thus, the synoptic problem is transferred from the synoptics themselves to the presynoptic text of Marcion. 

> not precisely. The stations are: Pre-synoptic Gospel of Marcion - then the synoptics and John as reactions to this Gospel - then Marcion's publication of his New Testament, including his preface (Antitheses), his (surely slightly revised Gospel) and 10 Pauline Letters.

 

It consists, as I understand it, in the fact that when dating the Markion Gospel to the second century, the origin of very many sayings of Jesus and episodes associated with Him have no rational explanation. 

> I don't think so (and you give your own explanation below). At the moment I am writing a new book that is attempting to do precisely what you are asking, namely to read the many sayings of Jesus and the narrated episodes in the light of the mid second century, and each time I am doing this with a given narrative, it seems to me that they are better fitting this time rather than the first century.

 

Some similar sayings and even events can be found in ev. John and Thomas, as earlier monuments, but most of the corps of ev. Marcion is of original origin. 

>I don't think that John and Thomas are prior to Marcion's Gospel (the same is held by Klinghardt). Yet, of course, there are several sayings that one cannot find in Marcion's Gospel (and, as we know, there are several sayings which we know of, but which are not in any of our 'canonical' Gospels)

 

Where historical information on this score could come from in the second century is completely incomprehensible. 

>not entirely. Different people have different access to oral traditions. If Marcion has put the same energy, money and networks into collecting oral traditions about Jesus as he did with finding letters of Paul (remember, until today, we only have those letters of Paul that Marcion provided us with. None of the letters that have been added to his collection - like the Pastorals and Hebrews - are, today, regarded as authentic amongst scholars), then he provided us potentially with a very good, and even a rather reliable stock. Whether additional material that others have gathered are like the Pastorals or Hebrews would need to be checked.

 

The same applies to the utterances of Jesus, although in this case historical losses can be assumed.

>indeed, you give a good example:

Such as the disappearance of the five volumes of the logias of Jesus collected by Papias of Hierapolis - some of the lost logia could presumably enter into ev. Marcion. However, it is suspicious that the early fathers practically did not cite the synoptics: if the logia were known to the authors. Marcion, then other authors should have known about their existence and cited them, as cited logia close to logia from E. John. Perhaps I just missed something or forgot, and have the wrong view on this problem.

>As said above, we do have logia that predate Marcion, we have - though very few - in Paul, we have a few more in other sources, but in none of our sources do we find narratives, especially not a single miracle story, no Easter stories, no stories about Jesus' youth ... These are all post-Marcion stories which, I think, where inspired by him.

 

On the other hand, be ev. Marcion was written before the 1st Jewish War, and other authors should know and mention about him, but according to my information, there are no such references. 

>The same that accounts for the Synoptics and John accounts for Marcion, there is no mention of narratives about Jesus before Marcion came up with his Gospel.

 

The same is even more true for the description of events - in the second century, this information would simply have nowhere to come from, given the complete absence of eyewitness records or anything like that, even in a scattered form. 

>this is, why I think, it needed Marcion to recover those and put them into a biographical and geographial order, just he did with his collection of Paul's letters which he ordered according to time and geography.

 

And in general, as far as I understand, there was a tradition of oral preservation of logia, which were then collected and written down by someone - but not the events of the Gospel history.

>potentially, as we have neither a collection of logia older than the Gospel of Marcion. All we have are very, very few individual logia, here and there.

 

I have a rather audacious assumption on this score. Is it possible that the Gospel of Marcion was created by its author as an artificial construct of fictional events in the fabric of surviving rumors and legends that roamed in the early Christian environment in the form of legends to include those logos of Jesus that were available to the author. 

>This is a very good assumption. For, if Marcion had a source with an authority, why would he not give the name of this authority when he attributed the letters he found to Paul. Yet - and Tertullian complaints about Marcion that he did not give an author's name to his Gospel, assuming that he should have put his name to his product.

 

I would like to know your competent opinion on this matter. Perhaps flaws and gaps in my education led me to erroneous assumptions. I would be extremely grateful and grateful to you if you find it possible to answer me and at least briefly criticize and correct my ideas.

 

With respect and gratitude

 

Bp. Oleg Chekrygin