Zu dieser Rezension, die von einem meiner eigenen Lehrer geschrieben ist, folglich von besonderem Gewicht für meine eigene Arbeit und Überlegung ist, seien folgende Überlegungen angestellt:
Die Kritik, die Ritter formuliert, bezieht sich auf die herausgehobene Ausschließlichkeit der retrospektiven Methode ("nur sie", S. 300), die er darum als "Zauberwort" (S. 298) stilisiert. Mit Aufklärung hat die Methode der Retrospektion, die ich in diesem Buch entwickle, wohl zu tun - hier hat er richtig gesehen - doch deren Ausschließlichkeit habe ich nicht behauptet. Stattdessen formuliere ich im Buch, dass die herkömmliche chronologisch orientierte Methode, Geschichte zu schreiben "can be deceptive" (Vinzent, Writing ..., S. 79). Wie könnte auch eine historiographische Methode - gleich welche - Ausschließlichkeit erheben? Wissenschaft heißt ja, dass Ergebnisse von verschiedenen Seiten reproduzierbar sein müssen.
Allerdings gibt es Methoden, die sich für gewisse Einsichten eher von Vorteil erweisen als andere. Und hier hatte der Rezensent, der meine andere Arbeiten bestens kennt, natürlich den Braten gerochen. Das Buch spart ja bewusst jede Diskussion zu Markion aus (das Wort begegnet nur ein einziges Mal in einem Zitat, das ich Lieu entnommen habe), weil es die Methodologie und meine Vorstellungen zur Entstehung der Evangelien nicht miteinander vermischen wollte. Und doch ist das ganze Buch natürlich darauf angelegt, die historiographische Herangehensweise zu erläutern, unter der ich etwa auch das andere, fast zeitgleich erschienene Buch, der "Offene Anfang" (Herder 2019) geschrieben habe, mit dem ich die ideologische Perspektive der neutestamentlichen Wissenschaft erweisen wollte. Deshalb ist diese Rezension auch nicht nur eine solche zu meinem CUP Buch Writing ..., sondern zugleich eine kritische Position zu der positiven Besprechung des "Offenen Anfangs" in derselben Zeitschrift (ThLZ 145,951f. von Christoph Auffarth).
Retrospektion bestreitet also nicht, dass unsere gewöhnliche Herangehensweise zu denselben Ergebnissen kommen kann, doch gehen, wie ich zu zeigen versuche, chronologisch geleitete Historiker daran, aus dem Iststand die Vergangenheit so zu modellieren, dass der Iststand gesichert wird. Darin sehe ich den großen Unterschied zwischen den aufklärerischen Ansätzen, die in der Romantik nicht weiterentwickelt, sondern durch eine positivistische Historiographie der Romantik noch zugearbeitet haben, allen voran die Größen unseres Faches.
Ich schließe also nicht aus, dass man die vier Beispielfälle auch auf herkömmlichem Weg so beantworten kann, wie ich es hier vorschlagsweise versuche, woran Ritter in den Ergebnissen ja keinen Anstoß nimmt (die Amazonhypothese "leuchtet sehr ein", S. 299; Aristides: hätte man "von selbst darauf kommen" können; zu Abercius urteilt er nicht). Wenn er allerdings zu Ignatius schreibt, dass "die 'retrospektive' Betrachtungsweise - und nur sie - zur Erkenntnis führe, dass im 16. Jh. das Ignatiusbild aus einer 12-, statt 3- oder 7-Briefe-Sammlung bezogen wurde ... zwar wirkungsgeschichtlich wichtig ... für die ... Frage nach den 'Origins', in diesem Fall der authentischen Gestalt des Corpus Ignatianum und dessen Einordnung in die Theologiegeschichte des 2. Jh.s ... getrost zu vernachlässigen" (S. 300) sei, so scheint mir dies Wunschdenken zu sein. Das Ignatiusbild, bei dem die Dreierbriefsammlung unbekannt war, und das, wie im Buch gezeigt, tief in die Konfessionsstreitigkeiten eingebunden blieb, wurde von dieser Einbindung während des 19.-21. Jh.s nicht befreit. Ohne Retrospektion und im direkten Zugriff auf das 2. Jh. hat man Curetons Fund und seine Ergebnisse für über Hundert Jahre ins Vergessen geraten lassen. Gewiss hätte man auch ohne Retrospektion ggfls. irgendwann eher zufällig Cureton wieder ausgraben können, doch das andere Beispiel der sog. Aberciusinschrift legt das Gegenteil nahe. Bis in die jüngste Monographie von 2019 (McKechnie, P. (2019), Christianizing Asia Minor Conversion, Communities, and Social Change in the Pre-Constantinian Era (Cambridge)) wird die Inschrift einem historischen Bischof Abercius des 2. Jh.s zugeschrieben, weil schlicht das Zeugnis aus dem 5. Jh. aus den Wunschaugen des 21. Jh.s in das 2. Jh. projiziert werden und nicht - wie in Retrospektive angeraten - historisch korrekter die Vita Avercii im 5. Jh. als prägende Folie für die Interpretation der archäologischen Funde des 2. Jh.s gelesen wird und im Anschluss daran die archäologischen Zeugnisse in ihrem eigenen Licht betrachtet werden. In dieser Hinsicht ist die retrospektive Methode eigentlich nur die Methode, die ich von einem anderen Lehrer gelernt habe und die auch Ritter praktiziert - nicht unter diesem Zauberwort - doch mit der schlichten Aufforderung: Lesen Sie alles, was über Ihr Thema geschrieben wurde, alles, das heißt mindestens alles von heute bis zu Thomas von Aquin. Ich möchte lediglich diese kritische Rücksicht ausdehnen auch auf die formative Zeit der Spätantike.